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Reinhard Barth: Pomp And Circumstance

13.02.2018 Pomp and Circumstance
(nach einem Brief vom August 2000)


Zweimal hatte ich den Film „Brassed Off“, das Porträt einer Bergarbeiter-Blaskapelle vor dem Hintergrund der Zechenschließungen in Nordengland während der frühen 1990er Jahre, schon im Kino gesehen, und da er zu halbwegs passender Zeit im Fernsehen lief, sah ich ihn auch ein drittes Mal, bei den Nachbarn, die verreist waren. Die haben einen riesigen Fernseher, und wenn man sich davor hockt, kann man sich fast wie im Kino fühlen.

Er fängt ja gleich ganz wunderbar an mit dem Auftritt des Mädchens in der Männerrunde. Auf dem Flügelhorn, das sie vom Vater geerbt hat, bläst sie das Solo aus Joaquin RodrigosConcierto de Aranjuez“. Natürlich mit höchster Brillanz, die Kerle machen große Augen. Wie das Stück, eigentlich ein Gitarrenkonzert, ins Repertoire einer englischen Bergarbeiterkapelle gelangt, habe ich mich so wenig gefragt wie bei den Malen vorher, manchmal ist der Film eben doch ein Märchen, genauso am Schluss, da sie den ersten Preis beim Bläserwettstreit in der Royal Albert Hall gewinnen, indem sie die furiose Ouvertüre aus RossinisWilhelm Tell“ darbieten - einfach so, ohne dass je Vorbereitungen dazu zu hören oder zu sehen gewesen wären.

Bis zu diesem Abend hatte ich noch geglaubt, den Film vollständig nacherzählen zu können, meine Kinobesuche waren doch erst ein oder zwei Jahre her, aber merkwürdig, vieles hatte ich vergessen, vor allem die politischen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern und zwischen den Kumpeln untereinander anlässlich des Spaltungsversuchs der Betriebsleitung, die den Bergleuten Abfindungen verspricht, wenn sie ihren Job aufgeben. Aber das Medium, in dem das alles stattfindet, ist die Musik oder „da musick“, wie der Dirigent in seinem Yorkshire-Idiom sagt. Musica triumphans, über alle Schicksalsschläge und polit-ökonomische Widrigkeiten triumphiert die Musik.

Die Dinge sind in England wohl auch wirklich so passiert, daran ist nicht zu deuteln. Die Deindustrialisierung, der Untergang ganzer Industriezweige ist dort wesentlich
brutaler abgelaufen als bei uns. Bring einer mal das Kunststück fertig, so ein Thema in einem Spielfilm abzuhandeln, ohne dass es rührselig, melodramatisch, knochentrocken oder langweilig wird. Der Film bedient kein Klischee, er zeigt nur Menschen, die versuchen, sich durchzuwursteln und dabei nicht ihre Würde und Ehre zu verlieren. Wie humorvoll und wohlwollend der Film mit seinen Helden umgeht, die doch auch nicht unbedingt edle Charaktere sind. Die vielen schönen Einzelheiten, die so gut beobachtet sind: etwa das Paar, das sich immer nur an der Haustür begegnet, sie von einer Krisensitzung kommend und entsprechend geladen, er mit seinem Instrumentenkoffer unter dem Arm auf dem Weg zur Probe, und sie schimpft jedes Mal: „Du mit deiner blöden Trompete“, und er antwortet automatisch: „Das ist ein Euphonium und keine Trompete.“ Die polternden Ansprachen des Dirigenten, der, selbst schwer krank, noch immer seine Leute zu den Probenabenden zusammentrommelt, obwohl die angesichts ihrer düsteren Zukunft kaum noch einen Gedanken an „da musick“ verschwenden wollen. Die gnadenlose Feindseligkeit der Bergarbeiter, als herauskommt, dass das Mädchen, das bei ihnen mitspielt, beim Klassenfeind angestellt ist (dabei hat sie gerade ein Gutachten angefertigt, das die Wirtschaftlichkeit des Bergbaus beweist, doch ihre Auftraggeber interessiert das nicht, sie werfen es ohne hineinzugucken in den Papierkorb, und erklären ihr höhnisch: „Kohle ist Geschichte, liebes Fräulein“), und wie jeder auf seine Weise damit fertig wird, dass er sich in dem Mädchen geirrt hat. Die Unsicherheit des Jungen, dem das Mädchen von früher, aus Schulzeiten bekannt ist, der sich ihr aber nun, da sie studiert hat, unterlegen fühlt. Er lädt sie zum Essen in ein nach seiner Meinung feines Lokal ein, aber das erweist sich als schäbiger Schuppen, in dem eine mürrische Kellnerin das Essen, Bratwurst mit Pommes, ohne großes Zeremoniell auf den Tisch knallt. Hinterher auf der Straße gibt es einen köstlichen Dialog:

SIE: Kommst du noch zu mir auf einen Kaffee?

ER immer noch unsicher: Ich trink keinen Kaffee.

SIE lächelnd: Ich hab auch gar keinen.

Und dann sieht er sie an und weiß endlich Bescheid.

Ich hatte den Film bei den ersten Malen im Original mit deutschen Untertiteln gesehen, was ganz reizvoll war, das nordenglische Idiom, das die Leute sprechen, hat etwas ausgesprochen Kerniges. Diesmal war der Film synchronisiert, immerhin passabel synchronisiert, ohne die Mätzchen, die sie gern dabei machen. Ein Wortspiel war mir noch im Ohr, und ich war gespannt, wie sie das lösen würden. Im Original machen die musizierenden Kumpel ihre Witze über das „Concierto de Aranjuez“, und einer verballhornt es zu „Concerto d’Orange Juice“. Das ist natürlich im Deutschen so nicht wiederzugeben, aber die Synchronisation wusste sich zu helfen, bei ihr hieß das Stück jetzt nach der damals bekannten Tennisspielerin „Concerto d’Arantxa Sanchez“, das fand ich einen glänzenden Einfall.

Beim Schlussbild hätte ich weinen mögen. Wie sie da im Bus durch die Nacht rauschen. Es sieht aus, als ob sie sich auf einem fliegenden Teppich unter dem Nachthimmel oder in einem Boot auf dem Meer befinden. Sie fahren heimwärts, dorthin wo inzwischen ihre Arbeitsplätze vernichtet sind, aber daran denken sie nicht. Sie haben mit einem Ersatzmann als Dirigenten den Preis gewonnen, aber ihr alter Chef, der sie zusammengehalten hat, ist seinen Ärzten aus dem Krankenhaus entwischt und im letzten Moment hinter der Bühne erschienen und hat ihren Triumph miterlebt. Nun thront er, den Pokal oder Teller oder was das Symbol ihres Sieges ist, unter den Arm geklemmt, über ihnen wie der Steuermann über einer Schiffsbesatzung.

Ohne dass es jemand angeordnet hätte, kramen sie ihre Instrumente hervor und spielen das Trio, „Largamente“, aus Edward Elgars MilitärmarschPomp and Circumstance
No 1“. Mit einem patriotischen Text, „Land of Hope and Glory“, versehen, ist das Stück inzwischen so etwas wie eine zweite englische Nationalhymne. Wann immer sich Engländer in Hamburg versammeln oder sonst etwas Deutsch-Englisches stattfindet, spielen sie todsicher den Marsch, in dem das bewusste Trio den Mittelteil bildet, der am Schluss noch einmal fortissimo wiederholt wird. „Legato e cantabile“ hat der Komponist drüber geschrieben, und cantabile, sangbar ist es, ein Ohrwurm, die Hymne
aller Hymnen. Das britische Imperium lebt da wieder auf, ich denke an Truppenparaden,
an Soldaten in roten Röcken mit Bärenfellmützen, an prachtvoll gekleidete Kavalleristen mit wippenden Federbüschen, wenn ich „Pomp and Circumstance“ höre.

Der Text, den ein gewisser Arthur Christopher Benson dazu gedichtet hat, feiert den britischen Imperialismus ganz ungeniert. Mit Arbeiterkultur hat das wenig zu tun. Im Film knurrt der alte Dirigent, als seine Leute die ersten Töne spielen, dann auch verächtlich: „Land of Hope and Glory, ich weiß Bescheid.“ Aber er dirigiert, der todkranke Mann, der bleich über seinen Leuten wacht, und hat sein grimmiges Vergnügen daran. Vielleicht will er sagen: Das ist gute Musik, die gehört allen. Die hat Elgar nicht bloß für die da oben komponiert, sondern für uns genauso. Und wer sie spielen kann, dem gehört sie allemal.

© Reinhard Barth 2018


Kontext


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