25.01.2025
Ich kannte Meat Loaf. Er gehörte zu dem kuriosen Personal des Films „The Rocky Horror Picture Show“, den ich im Winter 1977/78 in Hamburg sah. Aus einer Tiefkühlkammer kommend fährt auf einem Motorrad durch eine Festgesellschaft und wird vom Gastgeber, dem Transvestiten Frank N. Furter, mit einer Spitzhacke erschlagen.
Mein Mitbewohner Ulrich, der immer mal Platten mit Rockmusik kaufte, brachte eines Tages ein Album von Meat Loaf mit, „Bat out of Hell“, auf dem Cover ein wildes Gemälde: Ein Muskelprotz auf einem Motorrad mit einem Pferdeskelett vorm Lenker, das wie eine Rakete aus einer Erdspalte (oder aus einem Hölleneingang) hervorschießt, im Hintergrund hockt eine riesige Fledermaus auf einem Mausoleum, aus der Erde ragen überall Grabsteine und -kreuze. Der Fahrer wird von der losjagenden Maschine auf seinem Sitz zurückgerissen, auf dem Polster liegend erlebt er womöglich gerade einen Orgasmus. Das Ganze im Stil der 70er Jahre, als fantasy art blühte und die Zeichner sich in immer neuen Darstellungen von Muskelmännern (und Muskelfrauen) im Kampf gegen finstere Gestalten aus der Unterwelt oder Urzeitmonster ergingen. Im Film „Conan der Barbar“ (1981) eroberte diese Ästhetik dann auch die Leinwand.
Der auf dem Titelbild war nun nicht Meat Loaf, denn so viel wusste ich, er trug seinen wenig schmeichelhaften Spitznamen „Fettkloß“ nicht von ungefähr. Meat Loaf sang, auch in der „Rocky Horror Picture Show“ hatte er das schon getan. Das Paradestück des Albums war „Paradise by the Dashboard Light“. Es nahm glatt acht Minuten ein. Die Rhythmen, satte Rockmusik, gingen mir ein, aber auf den Text achtete ich wenig, bekam allenfalls mit, dass es um ein Teenager-Pärchen ging, das in einem Auto sitzt und drauf und dran ist, miteinander Sex zu haben – im paradiesischen Licht, das die Armaturenleuchten spenden. Irgendwann kamen dann andere Platten dran, die Doors etwa, auf denen Ulrich stand, und „Bat out of Hell“ verschwand im Regal.
Ein sonderbarer Zufall brachte mich nach vierzig oder mehr Jahren darauf, einmal nachzuforschen, was es mit dem Lied auf sich hat.
Ich hatte mir nach meiner FSME-Infektion im Sommer 2024 zu Reha-Zwecken einen Hometrainer besorgt, auf dem ich jeweils eine Viertelstunde die Pedale trat, ein langweiliges Geschäft, das ich mir erträglich machen wollte, indem ich CDs, die sich in großer Zahl bei mir angesammelt hatten (Geschenke, die man mir gemacht hatte, oder Fundstücke vom Altpapiercontainer, die Leute stellen ja die schönsten Sachen auf die Kisten!), eine nach der anderen abspielte. Leider stellte der CD-Teil meiner Musikmaschine (ein Erbstück von Carolin, das schon einige Jahre oder Jahrzehnte auf dem Buckel hat) nach kurzer Zeit seinen Dienst ein. Aber da war ja noch das Kassettenteil. Dafür besaß ich von altersher ebenfalls einen großen Vorrat an sogenannten MCs mit Aufnahmen aus dem Radio oder von Platten, damals gedacht für die häufigen Autofahrten nach München. Auf einer von diesen vierzig oder fünfzig Jahre alten Kassetten, die ich während meiner Treterei hörte, fand sich das bewusste Stück von Meat Loaf, „Paradise by the Dashboard Light“. Vom Text verstand ich wieder ziemlich wenig, der schlechten Lautsprecher wegen, aber die Musik riss mich mit.
Nach Ende meiner Übung setzte ich mich an den PC und rief mir bei Google Meat Loaf auf. Dort stieß ich sofort auf einen Link zu Youtube. Der verwies auf ein Video mit der Teenie-Ballade vom Paradies im Licht des Armaturenbretts.
Unterm Monitor habe ich neuerdings einen Bluetooth-Lautsprecher von Bose. Der übertrug mir Musik und Worte in astreiner Qualität, obendrein lief der Text auf dem Bildschirm noch in Untertiteln. So konnte ich die fetzige, abwechslungsreiche Musik genießen und versstand auch endlich, wovon in dem Stück die Rede war. Weitere Aufklärung gewann ich aus einem Artikel bei Wikipedia. Meat Loaf hieß eigentlich Marvin Lee Aday und lebte von 1947 bis 2022. Die Komposition stammte von einem Jim Steinman, der für den „typischen theatralisch-bombastischen Meat-Loaf-Stil“ hauptsächlich verantwortlich war. Steinman soll Wagner-Fan gewesen sein, seine Werke werden auch als „Rock Opera“ und „Wagnerian Rock“ bezeichnet. Das fand ich übertrieben, es war eben guter Rock, Gitarren im Vordergrund, Klavier dahinter, irgendwo auch noch weitere Instrumente und Backgroundstimmen, rasche, vorwärtstreibende Tempi, dazwischen choral- oder hymnenartige Partien und sogar einiges, das wie ein Rezitativ klang. Ja, Oper gewiss, aber Wagner? Auch Leitmotive sollen darin vorkommen. Soviel ist immerhin richtig, dass die beiden Protagonisten, der Junge und das Mädchen, ihre eigenen unverkennbaren Melodien haben und dass diese dennoch, wenn es an Duette geht, miteinander harmonieren.
Meat Loaf agiert in dem Video, als ob es um sein Leben ginge. Während seine Partnerin, in einer Art Aerobic- oder Yoga-Anzug, meist am Platz verharrt, ist er, im Hemd mit Stickereien auf der Brust, in ständiger Bewegung, rennt wie ein Irrwisch herum, der schwere Mann, rudert mit den Armen, wirft seinen Kopf nach hinten und nach vorn, lässt seine Haare fliegen und seine Augen rollen und greift hektisch nach seiner Partnerin. Wie mochte der zumute sein, wenn sie ihn umarmte, der war bestimmt klatschnass! Wenn ich das sehe, denke ich: Wie hat es der Mann eigentlich fertiggebracht, aufrecht stehen zu bleiben nach dieser furiosen Leistung? Nun gut, er war erst dreißig Jahre alt zu dieser Zeit, und später soll er bei seinen Shows immer Ventilatoren dabeigehabt haben, die ihm Luft zufächelten. Und ein Organ hat er! Irgendein boshafter Rezensent soll ihn einen „postpubertären Heldentenor“ genannt haben. Jedenfalls reichte sein Stimmumfang über drei Oktaven.
Wikipedia hat den Text in voller Länge. Ganz dahinter komme ich aber dennoch nicht. Geht es da um ein Geschehen hier und jetzt, oder hält da einer melancholischen Rückblick? Jedenfalls ist es zu Anfang die klassische Szene, mir vertraut aus dem Film „Fieber im Blut“ (1960), der mit einer ausgedehnten Liebesszene unter Teenagern im elterlichen Auto beginnt. „We were barely seventeen and we were barely dressed“ singen die beiden. Der Junge kann sein Glück kaum fassen: Noch nie war er mit einem so schönen Mädchen zusammen, jeder Junge in seiner Klasse würde viel dafür geben, jetzt an seiner Stelle zu sein. Nun drängelt er: Wo sie schon mal so weit gekommen sind, warum nicht mehr? „Unterstützt“ wird er durch eine Reportage von einem Baseball-Spiel, die offenbar im Autoradio läuft. Laut Wikipedia steckt sie voller sexueller Anspielungen, aber die verstehen wahrscheinlich nur Amerikaner. Im Video werden die entsprechenden Ausschnitte eingeblendet. Als das Geschehen auf dem Feld sich einem dramatischen Höhepunkt nähert, ruft das Mädchen plötzlich: „Stop right now!“
Es folgt die Ansprache, die wohl auch klassisch ist: Bevor wir weitermachen, sag mir erstmal, ob du mich wirklich liebst. Wirst du mich heiraten, wirst du mich glücklich machen mein Leben lang?
Meat Loafs Antwort ist in ihrer Treuherzigkeit unübertrefflich: Lass mich darüber schlafen, ich sag’s dir morgen. Aus dem Liebesduett wird ein hitziger Wortstreit: Ihr „Will you never leave me, will you make me happy for the rest of my life?“ gegen sein „Let me sleep on it, I’ll give you an answer in the morning“, bis sie ihn so weit hat, dass er bei Gott und dem Grab seiner Mutter ewige Liebe schwört. Bis ans Ende aller Zeiten, lautet sein Versprechen. Aber es scheint, damit ist es nicht weit her, denn der Song klingt aus mit dem Bekenntnis, dass er das Ende aller Zeiten herbeisehnt, während das Mädchen, erfüllt von dem erotischen Erlebnis (?), fröhlich vor sich hin trällert: Noch nie hat sich etwas so gut angefühlt, noch nie so richtig, und wir glühten wie das Metall auf der Klinge eines Messers.
Letztere Metapher ist mir nicht ganz klar, aber egal, allein der Satz „Let me sleep on it, I‘ll give you an answer in the morning“ ist so urkomisch, dass ich mich immer wieder daran freuen kann, wenn ich Meat Loaf von seinem Date mit der Klassenschönsten und vom Paradies, das am Armaturenbrett leuchtet, singen höre.