|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
21655 Artikel online | 1
Reinhard Barth: Pomp And Circumstance
Pomp and Circumstance
(nach einem Brief vom August 2000)
Zweimal hatte ich den Film „Brassed Off“, das Porträt einer Bergarbeiter-Blaskapelle vor dem Hintergrund der Zechenschließungen in Nordengland während der frühen 1990er Jahre, schon im Kino gesehen, und da er zu halbwegs passender Zeit im Fernsehen lief, sah ich ihn auch ein drittes Mal, bei den Nachbarn, die verreist waren. Die haben einen riesigen Fernseher, und wenn man sich davor hockt, kann man sich fast wie im Kino fühlen.
Er fängt ja gleich ganz wunderbar an mit dem Auftritt des Mädchens in der Männerrunde. Auf dem Flügelhorn, das sie vom Vater geerbt hat, bläst sie das Solo aus Joaquin Rodrigos „Concierto de Aranjuez“. Natürlich mit höchster Brillanz, die Kerle machen große Augen. Wie das Stück, eigentlich ein Gitarrenkonzert, ins Repertoire einer englischen Bergarbeiterkapelle gelangt, habe ich mich so wenig gefragt wie bei den Malen vorher, manchmal ist der Film eben doch ein Märchen, genauso am Schluss, da sie den ersten Preis beim Bläserwettstreit in der Royal Albert Hall gewinnen, indem sie die furiose Ouvertüre aus Rossinis „Wilhelm Tell“ darbieten - einfach so, ohne dass je Vorbereitungen dazu zu hören oder zu sehen gewesen wären.
Bis zu diesem Abend hatte ich noch geglaubt, den Film vollständig nacherzählen zu können, meine Kinobesuche waren doch erst ein oder zwei Jahre her, aber merkwürdig, vieles hatte ich vergessen, vor allem die politischen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern und zwischen den Kumpeln untereinander anlässlich des Spaltungsversuchs der Betriebsleitung, die den Bergleuten Abfindungen verspricht, wenn sie ihren Job aufgeben. Aber das Medium, in dem das alles stattfindet, ist die Musik oder „da musick“, wie der Dirigent in seinem Yorkshire-Idiom sagt. Musica triumphans, über alle Schicksalsschläge und polit-ökonomische Widrigkeiten triumphiert die Musik.
Die Dinge sind in England wohl auch wirklich so passiert, daran ist nicht zu deuteln. Die Deindustrialisierung, der Untergang ganzer Industriezweige ist dort wesentlich
brutaler abgelaufen als bei uns. Bring einer mal das Kunststück fertig, so ein Thema in einem Spielfilm abzuhandeln, ohne dass es rührselig, melodramatisch, knochentrocken oder langweilig wird. Der Film bedient kein Klischee, er zeigt nur Menschen, die versuchen, sich durchzuwursteln und dabei nicht ihre Würde und Ehre zu verlieren. Wie humorvoll und wohlwollend der Film mit seinen Helden umgeht, die doch auch nicht unbedingt edle Charaktere sind. Die vielen schönen Einzelheiten, die so gut beobachtet sind: etwa das Paar, das sich immer nur an der Haustür begegnet, sie von einer Krisensitzung kommend und entsprechend geladen, er mit seinem Instrumentenkoffer unter dem Arm auf dem Weg zur Probe, und sie schimpft jedes Mal: „Du mit deiner blöden Trompete“, und er antwortet automatisch: „Das ist ein Euphonium und keine Trompete.“ Die polternden Ansprachen des Dirigenten, der, selbst schwer krank, noch immer seine Leute zu den Probenabenden zusammentrommelt, obwohl die angesichts ihrer düsteren Zukunft kaum noch einen Gedanken an „da musick“ verschwenden wollen. Die gnadenlose Feindseligkeit der Bergarbeiter, als herauskommt, dass das Mädchen, das bei ihnen mitspielt, beim Klassenfeind angestellt ist (dabei hat sie gerade ein Gutachten angefertigt, das die Wirtschaftlichkeit des Bergbaus beweist, doch ihre Auftraggeber interessiert das nicht, sie werfen es ohne hineinzugucken in den Papierkorb, und erklären ihr höhnisch: „Kohle ist Geschichte, liebes Fräulein“), und wie jeder auf seine Weise damit fertig wird, dass er sich in dem Mädchen geirrt hat. Die Unsicherheit des Jungen, dem das Mädchen von früher, aus Schulzeiten bekannt ist, der sich ihr aber nun, da sie studiert hat, unterlegen fühlt. Er lädt sie zum Essen in ein nach seiner Meinung feines Lokal ein, aber das erweist sich als schäbiger Schuppen, in dem eine mürrische Kellnerin das Essen, Bratwurst mit Pommes, ohne großes Zeremoniell auf den Tisch knallt. Hinterher auf der Straße gibt es einen köstlichen Dialog:
SIE: Kommst du noch zu mir auf einen Kaffee?
ER immer noch unsicher: Ich trink keinen Kaffee.
SIE lächelnd: Ich hab auch gar keinen.
Und dann sieht er sie an und weiß endlich Bescheid.
Ich hatte den Film bei den ersten Malen im Original mit deutschen Untertiteln gesehen, was ganz reizvoll war, das nordenglische Idiom, das die Leute sprechen, hat etwas ausgesprochen Kerniges. Diesmal war der Film synchronisiert, immerhin passabel synchronisiert, ohne die Mätzchen, die sie gern dabei machen. Ein Wortspiel war mir noch im Ohr, und ich war gespannt, wie sie das lösen würden. Im Original machen die musizierenden Kumpel ihre Witze über das „Concierto de Aranjuez“, und einer verballhornt es zu „Concerto d’Orange Juice“. Das ist natürlich im Deutschen so nicht wiederzugeben, aber die Synchronisation wusste sich zu helfen, bei ihr hieß das Stück jetzt nach der damals bekannten Tennisspielerin „Concerto d’Arantxa Sanchez“, das fand ich einen glänzenden Einfall.
Beim Schlussbild hätte ich weinen mögen. Wie sie da im Bus durch die Nacht rauschen. Es sieht aus, als ob sie sich auf einem fliegenden Teppich unter dem Nachthimmel oder in einem Boot auf dem Meer befinden. Sie fahren heimwärts, dorthin wo inzwischen ihre Arbeitsplätze vernichtet sind, aber daran denken sie nicht. Sie haben mit einem Ersatzmann als Dirigenten den Preis gewonnen, aber ihr alter Chef, der sie zusammengehalten hat, ist seinen Ärzten aus dem Krankenhaus entwischt und im letzten Moment hinter der Bühne erschienen und hat ihren Triumph miterlebt. Nun thront er, den Pokal oder Teller oder was das Symbol ihres Sieges ist, unter den Arm geklemmt, über ihnen wie der Steuermann über einer Schiffsbesatzung.
Ohne dass es jemand angeordnet hätte, kramen sie ihre Instrumente hervor und spielen das Trio, „Largamente“, aus Edward Elgars Militärmarsch „Pomp and Circumstance
No 1“. Mit einem patriotischen Text, „Land of Hope and Glory“, versehen, ist das Stück inzwischen so etwas wie eine zweite englische Nationalhymne. Wann immer sich Engländer in Hamburg versammeln oder sonst etwas Deutsch-Englisches stattfindet, spielen sie todsicher den Marsch, in dem das bewusste Trio den Mittelteil bildet, der am Schluss noch einmal fortissimo wiederholt wird. „Legato e cantabile“ hat der Komponist drüber geschrieben, und cantabile, sangbar ist es, ein Ohrwurm, die Hymne
aller Hymnen. Das britische Imperium lebt da wieder auf, ich denke an Truppenparaden,
an Soldaten in roten Röcken mit Bärenfellmützen, an prachtvoll gekleidete Kavalleristen mit wippenden Federbüschen, wenn ich „Pomp and Circumstance“ höre.
Der Text, den ein gewisser Arthur Christopher Benson dazu gedichtet hat, feiert den britischen Imperialismus ganz ungeniert. Mit Arbeiterkultur hat das wenig zu tun. Im Film knurrt der alte Dirigent, als seine Leute die ersten Töne spielen, dann auch verächtlich: „Land of Hope and Glory, ich weiß Bescheid.“ Aber er dirigiert, der todkranke Mann, der bleich über seinen Leuten wacht, und hat sein grimmiges Vergnügen daran. Vielleicht will er sagen: Das ist gute Musik, die gehört allen. Die hat Elgar nicht bloß für die da oben komponiert, sondern für uns genauso. Und wer sie spielen kann, dem gehört sie allemal.
© Reinhard Barth 2018
Kontext
Benson,Arthur Christopher | Brass Band | cantabile | Concierto de Aranjuez | Deutschland | Dirigent | Elgar,Edward | England | | Euphonium | Flügelhorn | Fortissimo | Gitarrenkonzert | Großbritannien | Hamburg | Hymne | Juice (Magazin) | Komponist | Komposition | Konzert (Veranstaltung) | Land of Hope and Glory | Legato | Marsch | Militärmarsch | Musik | Nationalhymne | Nordengland | Ohrwurm | Ouvertüre | Pommer | Pomp and Circumstance | Probe | Rockmusik | Rodrigo,Joaquín | Rossini,Gioachino | Royal Albert Hall | Straße | Ton | Trio | Trompete | Wilhelm Tell |
veröffentlicht am 13. Februar 2018
Artikel drucken
Weitere Artikel
| To Shiver the Sky "Die Menschen sind töricht,
Sie können nicht fliegen"
Diese Worte aus dem Lied "Die Vögel" von Franz Schubert laden nach wie vor zum Nachdenken ein: Das Urteil darüber, ob die Menschheit seit dem Jahr 1820 klüger geworden ist, sollte vielleicht kommenden Generationen überlassen werden. Dass aber Menschen fliegen können, ist heute unstrittig. Mit ihren geistigen und metallenen Flügeln können sie sogar höhere Sphären erkunden als das gefiederte Volk. Im Oratorium "To Shiver the Sky" ("Den Himmel beben lassen") hat Christopher Tin das multiperspektivische Verhältnis von Mensch, Himmel und Weltraum beleuchtet und kommentiert. |
| Amame: Mari Boine & Bugge Wesseltoft Eigentlich war alles ganz anders geplant: Anfang 2020 lebte die samische Künstlerin Mari Boine in Tromsø im Norden Norwegens und bereitete mit dem Produzenten Svein Schultz ein neues Album vor. Doch die Corona-Pandemie traf das Projekt hart - ein Treffen im Studio war auf unabsehbare Zeit nicht möglich. So ergriff Svein Schultz die Chance, einen Job als Schulleiter an der Kulturschule in Hamarøy anzunehmen. Mari Boine blieb allein und hörte Klaviermusik. Es dauerte nicht lange, bis sie Kontakt zu Bugge Wesseltoft aufnahm, der 2002 ihr Album „Gávcci Jahkejuogu – Eight Seasons“ produziert hatte.
|
| Irish Melodies (Thomas Moore) "The Last Rose of Summer" ist das bekannteste Lied aus den bis heute in England und Irland populären "Irish Melodies", die Thomas Moore erstmals 1808 veöffentlichte. Die von irischen Folksongs inspirierten Kunstlieder sind in den Jahren 1807 bis 1834 entstanden. In den ursprünglichen 10 Bänden sind jeweils 10 bis 16 der insgesamt 124 Lieder enthalten. Zuweilen wurden anderweitige Sammeltitel wie z.B. "Moore’s Irish Melodies" oder "Moore’s Illustrated Melodies" verwendet. |
| In meinem wilden Herzen - Rilke Projekt Unter dem Sammeltitel „Rilke Projekt“ werden Texte von Rainer Maria Rilke interpretiert. Hierbei finden Rezitation, Gesang und Instrumentalmusik gleichermaßen Beachtung. Begründet wurde das Projekt vom Komponisten- und Produzentenduo Schönherz & Fleer. Das erste Rilke Projekt-Album trägt den Titel „Bis an alle Sterne“ und ist 2001 erschienen. Es folgten „In meinem wilden Herzen“ (2002), „Überfließende Himmel“ (2004), „Weltenweiter Wandrer“ (2012), „Wunderweiße Nächte“ (2018) und „das ist die SEHNSUCHT“ (2022). |
| Generation Cancellation: „Ich habe keine Wahl. Geh oder stirb.“ Vor zwei Jahren war Little Big noch die Band, die Russland zum ESC in Rotterdam schicken wollte. Als Putins Truppen die Ukraine überfielen, posteten die Musiker eine schwarze Kachel "No war!" auf ihrem Instagram-Kanal - es musste auf Druck der staatlichen Stellen entfernt werden. Im Juni hat Little Big die Konsequenzen gezogen: Sie verließen das Land, dessen Regime lügt, zerstört, drangsaliert und eine ganze Generation canceln will. |
| I’m The Putin-Man Wer Randy Newman 2017 im Song "Putin" gut zugehört hat, konnte ahnen, wohin das Ego des Kreml-Herrschers führen wird. Randy Newman erhielt einen Grammy für "Putin" und Greil Marcus sah Kurt Weill und Bertolt Brecht "vor Freude in ihren Gräbern tanzen". Newmans Warnung vor dem notorischen Lügner, Kriegsverbrecher und Diktator blieb folgenlos - nun steht die Welt hilflos vor dem Geschehen in der Ukraine. |
| BONE MUSIC ... und was riskierst du für deine Musik? Nach dem Ende des 2. Weltkriegs bis Mitte der 1960er Jahre blühte in der Sowjetunion ein besonderer Schwarzmarkt: Zensierte Musik, von Bill Haleys "Rock around the Clock" bis zu russischen Gangsterliedern, wurde auf ausrangierte Röntgenaufnahmen kopiert. Der britische Musiker Stephen Coates stieß 2016 auf einem Berliner Flohmarkt auf Bone Music-Aufnahmen.
|
| What a Wonderful World Er war der größte Star des Jazz, seine gute Laune ansteckend und sein Trompetenspiel und Gesang unverkennbar: Vor 50 Jahren starb Louis Armstrong, der erste schwarze Musiker, der es zu Weltruhm gebracht hatte. Seine Fassungen von Hello Dolly, Blueberry Hill, When the Saints Go Marchin’ In, Dream a Little Dream of Me und dem St. Louis Blues gehören zum kollektiven Gedächtnis. |
| Bella Ciao - Partisanenlied als offizielle Hymne? In Italien wird aktuell heftig über ein Lied gestritten: Parlamentarier linker Parteien und der Cinque Stelle haben vorgeschlagen, "Bella Ciao" zur offiziellen Hymne des 25. Aprils zu machen, des Gedenktags für die Befreiung von Faschismus und deutscher Besatzung. Das Partisanenlied stehe für die "höchsten Werte der Republik" und solle künftig bei offiziellen Anlässen gleich nach der Nationalhymne erklingen. |
| hamburg.stream – ein online-Projekt der Jazz Federation Hamburg zur Aufrechterhaltung des Kulturbetriebs hamburg.streamentstand als unmittelbare Reaktion auf die Herausforderungen, mit denen die Kultur zu Beginn der Corona-Pandemie konfrontiert war, und erweist sich bis heute (Stand Mitte April 2021) als anspruchsvolle, nachhaltige und zugleich absolut zukunftsfähige Plattform für Musik im digitalen Raum. Am 14. April 2020 gestartet, setzte das Team von hamburg.stream in weniger als 12 Monaten ca. 90 Streams um, bot fast 400 Musiker:innen in einem auf Jazz ausgerichteten, aber durchaus divers aufgestellten Programm eine Bühne und sammelte rund 80.000€ Spenden.
|
ᐅ „Excavated Shellac“ - 100 Schellack-Schätze ᐅ hamburg.stream - Hamburg bleibt live! ᐅ Reinhard Barth: Va, pensiero ᐅ Algorithmen vollenden Beethoven ᐅ Jukebox alter Meister