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Reinhard Barth: Va, pensiero
(2018)
Einige aus dem Neuen Chor haben sich mal an der Herstellung eines Werbefilms beteiligt. Das ist wohl zehn Jahre her. Die Firma Loewe wollte eine neue Generation ihrer Lautsprecher vorstellen, und die Werbefirma, die den Auftrag für den Spot hatte, brauchte Leute, die den Gefangenenchor aus Verdis Oper "Nabucco“ sangen.
Ich war bei dem Unternehmen nicht dabei. Der Film sollte in der Laeiszhalle aufgenommen werden, nach Ende des abendlichen Konzertbetriebes. Das hieß sich die Nacht um die Ohren schlagen, und dazu hatte ich dann doch keine Lust. Außerdem war nicht der ganze Chor gefragt, sie hatten wohl schon anderweitig Statisten besorgt und brauchten nur noch Verstärkung. Ich sah also geruhig zu, wie sich nach der Chorprobe die Interessenten um die Abgesandten der Werbefirma scharten, um Anweisungen zu bekommen und ihre Kleidergrößen zu nennen, und ging still nach Hause. Ich fragte wohl bei der nächsten Probe meinen Nachbarn im Bass, der sich für den Film gemeldet hatte, wie es ihm ergangen sei, erfuhr aber nicht viel mehr, als dass sie tatsächlich die ganze Nacht in der Laeiszhalle zugebracht und auch gesungen hätten, für den Film aber eine Studioaufnahme vom NDR-Chor verwendet würde.
Über die Entstehung des Films kann ich daher nichts sagen. Aber ich besitze das fertige Produkt. Einer der Mitwirkenden aus unserem Chor hat den Film seinerzeit aus dem Internet heruntergeladen. Er war wohl auf Youtube gestellt worden, um ihn zu testen, und der Sänger hatte es fertig gebracht, den Film abzuspeichern, eine Kunst, die Laien wie unsereinem nicht gegeben ist und auch nicht gegeben sein soll, wenn es nach Youtube geht. Der Film scheint dann aber nicht eingeschlagen zu haben, jedenfalls berichtete mein Gewährsmann, dass der Auftraggeber keinen Gebrauch von ihm gemacht hätte. Loewe hat anders für seine Lautsprecher geworben, nicht mit diesem Film.
Dabei ist er doch so gut gemacht. Ich jedenfalls sehe ihn mir immer wieder gerne an.
Eine Minute sieben Sekunden, das ist die Länge laut der Anzeige auf meinem Rechner. Aber was ist da alles drin in diesen 67 Sekunden! Der Film beginnt mit einer Totale, aufgenommen vermutlich vom Mittelrang. Ein gemischter Chor, vielleicht vierzig Leute, die Frauen in schwarzen Abendkleidern, die Herren im Frack, alle mit roten Notenmappen, steht auf der Bühne, vor sich den Dirigenten, gleichfalls im Frack, mit lockigem Haar, und hinter sich die große Orgel, die die Rückwand der Bühne bildet. Man hört die ersten Takte des Gefangenenchors, "Va, pensiero sull’ ali dorate“, Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen, gesungen a cappella, ohne Orchesterbegleitung. Parkett und Seitenränge des Konzerthauses sind voll besetzt. Das ist bestimmt aus mehreren zu verschiedenen Zeiten entstandenen Einstellungen montiert, sie werden für die nächtlichen Aufnahmen in der Laeiszhalle nicht noch hunderte von Statisten extra angeheuert haben. Die Kamera fährt auf die Bühne zu, der Gesang schwillt an, von den Seiten kommen immer mehr Sänger, gekleidet wie die ersten und gleichfalls mit roten Mappen ausgerüstet, und stellen sich dazu. Schließlich steht da in vier Reihen eine massive Phalanx von mindestens hundert Sängern, vorne die Frauen, hinten die Männer. Bei Detailaufnahmen kann ich einzelne Frauen aus unserem Chor erkennen, sie wirken sehr damenhaft in ihren schwarzen langen Kleidern. Dann kommt Bewegung in die Reihen, einzelne Männer drängen nach vorn, von den Seiten kommen noch welche dazu, die sich vor den Frauen aufbauen, einer verliert auf dem Weg seine Noten und muss sie mühsam einsammeln. In Großaufnahme einer der Sänger, ein massiger Bass, heftig schwitzend, der Gesten wie ein Solist macht und sich fürchterlich ins Zeug legt, und der Dirigent, der fassungslos auf das Durcheinander vor ihm blickt. Beide, wie mir mein Gewährsmann versichert hat, sind Schauspieler, die sie extra engagiert haben; dem Dirigenten ist auch anzusehen, das er noch nicht ganz erfasst hat, worauf es beim Dirigieren ankommt. So schnell wie sie gekommen, verschwinden die Männer aber auch wieder. Der Gesang, jetzt angekommen bei der Zeile "Le memorie nel petto raccendi“, Entzünde neu die Erinnerung in den Herzen, wo sich die Stimmen, bisher unisono, auffächern, wird noch lauter. Vor allem der erste Sopran, eine Terz über dem zweiten, darf so richtig strahlen, und der Komponist hat auch ein Fortissimo vorgesehen. Die Kamera hebt eine Sopranistin in der ersten Reihe heraus. Die singt, als ob es um ihr Leben ginge, ihre Stirnadern schwellen bedrohlich an. Der Dirigent guckt verzweifelt und schüttelt seine Locken. Die Sopranistin erkennt, das sie sich vergaloppiert hat, und nimmt sich etwas zurück. Plötzlich Bewegung im Chor, alle rücken mehrere Schritte seitwärts, singen aber unverdrossen weiter. Die Kamera fährt zurück, in der Totale sieht man, wie der ganze Chor, immer noch in derselben Manier seitlich ruckelnd, von der Bühne verschwindet. Obwohl sie vorher auf Podesten standen, kriegen alle den Abgang hin, ohne dass es Stockung gibt. Während die letzten Takte des Stücks erklingen, erscheint noch ein Nachzügler: Am Dirigenten, der einsam auf seinem Pult stehen geblieben ist, vorbei watschelt der schwerleibige Bass, der sich zuvor wie ein Solist gebärdet hat, quer über die Bühne hinter den anderen her. Die Kamera hat sich derweil weiter zurückgezogen, das Bild der leeren Bühne steht jetzt im Rahmen eines Fernsehgerätes, links und rechts werden Lautsprecher auf Ständern sichtbar, ein Schriftzug erscheint: "Loewe. Extrem realistischer Klang“.
Die Filmemacher standen vor der Aufgabe, Klangqualitäten sichtbar zu machen. Ich finde, sie haben die Aufgabe genial gelöst. Nämlich auf zwei Wegen. Zum einen indem sie über große Strecken des Films unten im Bild ein Display laufen lassen. Das trägt erst die Überschrift "Lautstärke“, dann "Tiefen“, "Höhen“ und "Balance“. In diesem Display wird Dynamik durch sich vermehrende oder abnehmende senkrechte Striche angedeutet. Man kann das gleichzeitig hören, der Chorgesang schwillt an und ab, mal treten die tiefen Stimmen hervor, mal die hohen, und am Schluss wird der Gesang wieder leiser. Gut, das ist noch konventionell, ein übliches grafisches Verfahren. Um aber die Sache noch eindringlicher zu machen, haben sich die Werber zweitens eine Filmhandlung unter Menschen ausgedacht. Ein Chor auf der Bühne spielt uns die fabelhaften Eigenschaften der Lautsprecher vor. Die Szene zu Anfang, da von den Seiten immer mehr Sänger hinzuströmen, illustriert das dürre Wort "Lautstärke“. Das Vordrängeln der Bässe, der Auftritt des beleibten Herrn ist die Verkörperung des Begriffs "Tiefen“, die aus Leibeskräften singende Sopranistin steht für die "Höhen“, und im Zur-Seite-Wegruckeln des ganzen Chors ist alles über "Balance“ gesagt.
Aber komm auf so etwas erst einmal, und bring das in einem altbekannten, in zig Wunschkonzerten gespielten Musikstück unter! Wie klug dies gewählt ist, und wie raffiniert sie seinen Bau und seine dynamischen Eigenheiten für ihr Vorhaben genutzt haben! "Va, pensiero“, der Sehnsuchtsgesang der Israeliten, die in der babylonischen Gefangenschaft schmachten, wirkt, als wäre es extra für diesen Film komponiert worden.
Warum hat Loewe keine Reklame damit gemacht? Ich sehe mir im Internet an, was die Firma heute macht. Immer noch Lautsprecher, im Premiumsegment, zum Teil kosten die Dinger mehrere tausend Euro. In der Firmengeschichte kein Hinweis auf Werbekampagnen, schon gar nicht auf Spots, die sie nicht benutzt haben. Zwischendurch ein Ausflug zum Stichwort "Gefangenenchor“. Ich lese bei Wikipedia: "Verdis im Zwölfachtel-Takt ausschwingende Melodie zeichnet Rhythmus und Inhalt der Vorlage in kunstvoller Direktheit mit sparsam eingesetzten Melismen und Textwiederholungen nach.“ Schön gesagt. Trauriger die angefügte Nachricht, dass gegenwärtig die separatistische Lega Nord das Lied anstelle der italienischen Nationalhymne verwendet und dass die Nazis, weil sie von jüdischer Geschichte nichts hören wollten, den Text umdichteten und Juden zu Ägyptern machten, den Jordan zum Nil, Zion zu Memphis. Auf der Plattform Youtube finden sich zum Stichwort "Loewe Lautsprecher“ zahllose Filme. Aber das sind nur Betriebsanleitungen, Messeberichte und Fernsehreportagen zu der Krise, die das Unternehmen um 2013 durchmachen musste. Ein einziger Werbespot ist dabei, ein ganz kümmerlicher. Er preist Lautsprecher an, die einen Raum ausmessen können, egal wo man sie aufstellt. Wohl der neueste Schrei, "extrem realistischer Klang“ reicht nicht mehr, jetzt müssen intelligente Geräte her, die selbst entscheiden können, wohin sie welche Töne senden. Illustriert ist das rein grafisch, mit Wellen in Form konzentrischer Kreise, die von einem Kasten ausgehen und sich mit anderen Kreisen schneiden. Wie langweilig!
Nachdem ich die Titel von hundert Einträgen habe durchlaufen lassen, die sich irgendwie mit Loewe und seinen Erzeugnissen beschäftigen, erscheint auf einmal doch ein Bild aus dem zehn Jahre alten Film mit dem Gefangenenchor. Draufgeklickt gibt Youtube ihn vollständig wieder, allerdings in schlechter akustischer Qualität. Es ist, wie ich sehe, eine Fassung in englischer Sprache, im Display stehen Begriffe wie "Volume“, "Treble“ und "Bass“, und die Schlusszeile lautet "Loewe. Extremely realistic Sound“. Anders als in der deutschen Version ist dem Gesang jedoch die übliche Orchesterbegleitung unterlegt. In der deutschen Version fehlte sie.
Der Film stammt von einer türkischen Website. Auch der Begleittext ist in türkischer Sprache gehalten, ich kann also nicht sagen, was der Grund für die Veröffentlichung ist. Am Rand steht, wie viel Menschen den Titel bisher aufgerufen haben. Es sind ganze 65. Und kommentiert hat ihn niemand.
Da ist es vielleicht ganz gut, dass ich den Film so genau beschrieben habe. Denn wer findet den schon im Netz. Und möglicherweise verschwindet er demnächst auch ganz.
veröffentlicht am 29. Februar 2020
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