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To Shiver the Sky
"Die Menschen sind töricht,
Sie können nicht fliegen"
Diese Worte aus dem Lied "Die Vögel" von Franz Schubert laden nach wie vor zum Nachdenken ein: Das Urteil darüber, ob die Menschheit seit dem Jahr 1820 klüger geworden ist, sollte vielleicht kommenden Generationen überlassen werden. Dass aber Menschen fliegen können, ist heute unstrittig. Mit ihren geistigen und metallenen Flügeln können sie sogar höhere Sphären erkunden als das gefiederte Volk. Im Oratorium "To Shiver the Sky" ("Den Himmel beben lassen") hat Christopher Tin das multiperspektivische Verhältnis von Mensch, Himmel und Weltraum beleuchtet und kommentiert. Zugleich kommt das Fliegen als Metapher für Hoffnung, Horizonterweiterung und herausragende Leistungen zum Tragen. Das Werk ist entsprechend facettenreich: Trotz der vorwiegend englischsprachigen Titel sind die elf Liedtexte in Italienisch, Lateinisch, Englisch, Deutsch, Französisch, Polnisch, Russisch und Sanskrit; wobei die drei erstgenannten Sprachen jeweils mit zwei Liedern vertreten sind. Die Liedtexte wurden von mehreren Autoren verfasst und schöpfen aus diversen Quellen, komplementär vereint die Musik unterschiedliche Kompositionstechniken. Die ursprüngliche Instrumentation lautet: Solosopran, Solotenor, Vokaltrio (hohe Stimmen), Kinderchor (ad libitum), gemischter Chor, Sinfonieorchester, Orgel (ad libitum). Als Alternativen liegen mehrere Bearbeitungen vor.
Das Eröffnungslied "Sogno di Volare" ("Der Traum vom Fliegen") fußt auf Worten von Leonardo da Vinci, der sich im 15. und 16. Jahrhundert mit der Anatomie der Vögel befasste, Fluggeräte erfand sowie mit diversen weiteren Ansätzen zu Kreativität und Wissensaneignung anregte. Der Text wird festlich vom Chor deklamiert. Der Orchestersatz enthält zahlreiche Fanfaren.
Im zweiten Lied, "The Heavenly Kingdom" ("Das Himmelreich"), wird das Fliegen als spirituelles Erlebnis thematisiert. Die Worte entstammen "Scivias" ("Wisse die Wege"), in dem Hildegard von Bingen um 1152 n. Chr. ihre Visionen festhielt. Die Vokalmelodien kommen mittelalterlichen liturgischen Gesängen gleich.
"Daedalus and Icarus" ist von der gleichnamigen griechischen Sage inspiriert, in der Vater und Sohn mithilfe selbsterschaffener Flügel dem Labyrinth des Minotauros entfliehen. Vor dem Abflug rät Dädalus Ikarus, weder zu tief zu gleiten noch zu hoch zu streben, weil sonst das Meer ihn zu sich ziehen oder die Sonnenhitze seine Flügel beschädigen könnte. Die Gegenüberstellung von Solotenor und Chor erinnert an altgriechische Dramen.
Als Vorlage für "The Fall" ("Der Sturz") diente die Göttliche Komödie von Dante Alighieri, ein Werk das den Absturz Luzifers berührt. Das Fallen in den Abgrund wird mittelst der Verschmelzung einer absteigenden Vokalise (alternierend von Sopran und Mezzosopran gesungen) mit einer von den Streichern gespielten Shepard-Skala geschildert. Der anschließende Abschnitt zitiert triumphal "Sogno di Volare" - der Finsternis und Hoffnungslosigkeit folgen Licht und Vorwärtsblicken.
"Astronomy" ("Astronomie") knüpft an das Werk Nikolaus Kopernikus’ an, der mit seiner Abhandlung "De revolutionibus orbium coelestium" ("Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären ", Erstveröffentlichung 1543) maßgeblich zur Entwicklung der modernen Astronomie beigetragen hat. Bei näherer Betrachtung erschließt die Partitur die von Tin integrierten Nachbildungen von Sternbildern, somit ist "Astronomy" ein Beispiel von Augenmusik. Dieses lädt wiederum zur Erforschung möglicher Bezüge zu weiteren einschlägigen Begriffen ein, wie z.B. jenem der Sphärenharmonie.
"To The Stars" ("Zu den Sternen") basiert auf Worten von Jules Verne, der im 19. und 20. Jahrhundert mehrere Science-Fiction-Werke schrieb. Satz und Melodik knüpfen an den Impressionismus an, der Dreivierteltakt und das schnelle Tempo verleihen der Musik den Charakter eines Walzers. Auf dem Album werden die Worte abwechselnd von einem Erwachsenenchor und Mädchenchor gesungen um symbolisch die Tatsache zu betonen, dass das Weltall nach wie vor Alt und Jung fasziniert.
Der Text zu "Oh, the Humanity" ("O, die Menschlichkeit") ist frei nach Ansprachen von Ferdinand Graf von Zeppelin gedichtet, dem Begründer des Starrluftschiffbaus und Förderer des Flugzeugbaus. Im Mittelpunkt steht die vielschichtige Entwicklung und Rezeption des Zeppelins. So schildert das Orchester stellenweise durch Nachahmung von Militärmusik und Sirenen die erschütternden Kriegseinsätze, oder erweckt der zarte Schlusschor die Hoffnung auf friedvolle Forschung und Beweglichkeit.
"Courage" ("Mut") ist eine Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Amelia Earheart, die 1932 als erste Frau einen Alleinflug über den Atlantik absolvierte. Der Text fasst Aspekte zusammen, die eine erstmalige Unternehmung üblicherweise mit sich bringt. Die Musik ist symbolträchtig für hohe Stimme und Orchester gesetzt.
Die Worte von "Become Death" ("Zum Tod geworden") stammen aus der hinduistischen heiligen Schrift Bhagavad Gita, an der betreffenden Stelle heißt es u.a. "Jetzt bin ich zum Tod geworden, zum Zerstörer von Welten". Robert Oppenheimer, der sich jahrzehntelang mit Mystik befasste, zitierte diese Worte als er 1965 seine Mitwirkung an der Entwicklung jener Atombomben schilderte, die 1945 über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Die im Vergleich zu den weiteren Liedern fragmentarisch wirkende Musik kann als Sinnbild für Aussichtslosigkeit verstanden werden - ein Gefühl, das vermutlich viele Zeugen des Zweiten Weltkriegs begleitet hat.
"The Power of the Spirit" ("Die Macht des Geistes") liegen Worte von Juri Alexejewitsch Gagarin zugrunde, der am 12. April 1961 als erster Mensch im Weltraum den Erdball umrundete. Der Chorsatz erinnert an russische Kirchengesänge. Das offizielle Musikvideo zeigt Satellitenaufnahmen der Erde.
Das Schlusslied "We Choose to Go to the Moon" ("Wir wollen auf den Mond") schöpft aus der gleichnamigen Rede von Präsident John F. Kennedy, der die Wichtigkeit der Weltraumforschung unterstrich. Kompositionstechnisch besehen kann "We Choose to Go to the Moon" als Kombination von Kontrafaktur und Potpourri beschrieben werden, es vereinigt Kennedys Worte mit Auszügen aus den Vokal- und Instrumentalstimmen der vorangehenden Lieder sowie aus der "Fanfare for the Common Man" von Aaron Copland. Dieses kann als symbolische Harmonisierung aller geschilderten Erscheinungsformen des Fliegens verstanden werden.
Neben dem zentralen Thema "Fliegen" sind die einzelnen Lieder durch Leitmotive miteinander verbunden. So knüpfen beispielsweise die Chor- und Orchestersätze von "The Fall" oder "Oh, the Humanity" an jene von "Sogno di Volare" an. Während die Fanfaren im sechsten oder zehnten Lied feierlich Hoffnung oder Erfolg verkünden, mutieren sie im dritten oder neunten Lied ins Ominöse. Schließlich führt "We Choose to Go to the Moon" verschiedene Motive aus den vorhergehenden Liedern miteinander zusammen. Der Werktitel "To Shiver the Sky" ist dem erstmals 1890 publizierten Gedicht "The Conundrum of the Workshops" ("Das Rätsel der Werkstätten") von Rudyard Kipling entnommen, das ebenfalls Aspekte von Kunst, Forschung und Spiritualität unter Verwendung von Motiven behandelt.
ᐅ To Shiver the Sky in Worlds of Music
veröffentlicht am 17. November 2024
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