Reinhard Barth: Gitarrist John Cipollina (nach einem Brief vom November 1980)

In den 1970er und 1980er Jahren gab es in Eppendorf, gelegen an der Ecke Lehmweg/Eppendorfer Weg, eine Musikkneipe namens „Onkel Pö’s Carnegie Hall“, von Eingeweihten verballhornend „Karnickelhalle“ genannt. Eine finstere Höhle, die Fenster verdunkelt, im Inneren schwarz angestrichen. Udo Lindenberg und Otto Waalkes waren dort aufgetreten, hauptsächlich aber Jazzgrößen aller Art. Al Jarreau und Helen Schneider hatten mit legendären Konzerten ihre Karrieren begonnen.
Ich bekam das alles nicht mit, obwohl ich gar nicht weit entfernt davon in der Haynstraße wohnte. Ich war nur ein einziges Mal im „Onkel Pö“, im November 1980, um den Gitarristen John Cipollina zu hören. Mir sagte der Name nichts, aber mein Mitbewohner Ulrich kannte ihn, und meine Dreiviertelcousine Janchen, mit der er seinerzeit ein Verhältnis hatte, kannte ihn auch. Die beiden beredeten mich mitzugehen.
Eine Legende sollte das sein, dieser John Cipollina, ein Veteran von der West Coast, als Jefferson Airplane und Quicksilver Messenger Service noch die Szene beherrschten. Nun hieß es, er wohne, inzwischen 37 Jahre alt (so alt wie Ulrich und ich) in einem Häuschen irgendwo in der Nähe von Los Angeles und komme nur mal in die Stadt, wenn sie einen besonderen Gitarristen brauchten.
Und er trat dann auch wirklich auf, ein dünner Zwerg mit langer Mähne, die ihm stets hinderlich vor der Gitarre hing. Dazu drei Mann, sicherlich genauso alt wie er. Am Schlagzeug einer, der aussah wie Peter Fonda, immer ein Streichholz im Mundwinkel. Der Bassist trug ein rotes Cowboyhemd mit schwarzer Jacke und eine dünne geblümte Hose. Der Rhythmusgitarrist, Nick Gravenites mit Namen, eine Berühmtheit, von der ich gleichfalls noch nie gehört hatte, war ein dicker, jovialer Typ mit wolligen Koteletten, dicker Brille auf der Nase, gestreiftem Hemd, schwarzer Weste und zu kurz geratener zerbeulter Hose, einer der überhaupt nicht ins Milieu passte, vielleicht eher Geigenlehrer am Konservatorium oder Kleindarsteller in einem Italowestern hätte sein können.
Die spielten also in dem höhlenartigen, überfüllten, verqualmten Raum, wo sich hundertfünfzig oder mehr Menschen drängten, schönen Blues, der ja irgendwie nicht totzukriegen ist, und zwischendurch gab es die aberwitzigsten Gitarrenkunststücke zu hören, nicht um Beifall einzuheimsen, darauf schien es den Musikern nicht anzukommen, wenn sie sich dabei auch nicht völlig abwesend, marmornen Gesichts präsentierten, sondern heiter und selbstverständlich. Auch Ulk gab es: Immer mal sah es aus, als ob es Unstimmigkeiten gäbe, wie ein Stück zu beenden sei. Während die anderen schon aufgehört hatten, spielte einer noch weiter, unsicher zu den anderen hinschielend, und lächelnd fingen die das auf, setzten wieder ein, als wäre nichts geschehen. Das war vielleicht Teil der Show, vielleicht aber auch nur fröhliche Improvisation: Man verstand doch sein Handwerk und wurde mit kleinen Missverständnissen und Durchhängern fertig. Ich stand dabei, manchmal direkt vor den Musikern – im Onkel Pö gab es kaum Trennung zwischen Bühne und Publikum –, hörte die mühelos und ungekünstelt dahinfließende Musik, und genoss das Spektakel. Ich freute mich am Eifer des Geigenlehrers Nick Gravenites, der seinen Kopf schüttelnd und nach Luft schnappend wie ein Karpfen, seine Blues-Phrasen vorbrachte, sie richtig, zwei Schritt zur Seite tretend, seinen Nachbarn vorlegte, damit sie sie aufnähmen, was sie auch taten, und an der durchsichtigen Bauart der Stücke und den Albernheiten, die ihnen unterwegs einfielen. Zugleich empfand ich eine Art Triumph und dann wieder Mitleid und Wehmut. Es waren dies doch die Zeugen eines Lebensgefühls aus den Zeiten von Hippies und flower power, und sie machten unverdrossen weiter, und siehe, es war gut, was sie machten, nicht bloß authentisch, sondern wirklich gut. Dabei waren sie keine Stars, wirklich nicht, und galten in der Gegenwart wohl auch nichts mehr. Aber immer noch waren sie imstande, alle anderen an die Wand zu spielen, und das war der Triumph. Dann sah ich winzige Zeichen von Müdigkeit und Schwäche. Ganz neuartig: Ich fühlte mich nicht mehr als Konsument, der Höchstleistung fordert („Nun soll der Wundermann aber auch was zeigen“), sondern teilnehmend, mitleidend. Selten habe ich ein solches Band zwischen Künstlern und mir gefühlt. Im Übrigen ließ dann Cipollinas letztes Solo, bei dem er buchstäblich alle Teile seiner Gitarre bearbeitete, überhaupt keine Wünsche hinsichtlich frischester Virtuosität mehr offen. Am Tag zuvor hatten die amerikanischen Präsidentschaftswahlen stattgefunden, die Ronald Reagan den Sieg brachten. Ich weiß nicht mehr, ob jemand Cipollina fragte oder er von sich aus bei einer seiner Ansagen darauf kam. Sein Statement jedenfalls lautete kurz und bündig: „Fuck you, Mister Reagan.“ Und das Publikum klatschte begeistert Beifall.
Aktueller Nachtrag: Wikipedia belehrt mich, dass John Cipollina 1989 an einem Lungenemphysem starb. Obwohl Asthmatiker, hatte er das Rauchen nie gelassen. Das Musikmagazin Rolling Stone wählte ihn auf Platz 32 der besten Gitarristen aller Zeiten. In einem weiteren Eintrag im Internet finde ich eine Eloge aus der Zeitschrift Musikexpress, die mir klarmacht, dass ich wohl einem bedeutenden Ereignis beiwohnte: „… wer das Glück hatte, am Abend des 5. November in Hamburgs legendärem ‚Onkel Pö’ zu sein, erlebte eine Sternstunde des Rock ’n Roll. Nicht nur – wie im Programm vorgesehen – John Cipollina und Nick Gravenites standen auf der Bühne, in der regulären Pause gesellten sich auch Hermann Brood und Vitesse dazu. Es wurde gejammt, dass es eine Freude war. Aber nicht genug damit: Gegen Mitternacht war plötzlich auch Mitch Ryder auf der Mini-Bühne und gab ausgiebige Kostproben seiner ungeheuren Stimme. Zu Recht tobte das Publikum, denn solche Super-Session erlebt man selten.“ War ich da schon zu Hause? An die Auftritte dieser Berühmtheiten kann ich mich nicht erinnern, weiß aber sowieso gar nicht, wer Hermann Brood, wer Vitesse und wer Mitch Ryder waren. Das „Onkel Pö“ bestand noch bis 1985, lese ich bei Wikipedia, dann führten Interventionen der Bauaufsicht (die Bässe der Verstärkeranlage waren angeblich dabei, die Standsicherheit des Gebäudes zu beeinträchtigen) und Unlust der Betreiber dazu, dass die Musikkneipe aufgegeben wurde und ein Restaurant namens „Legendär“ einzog, dem dann „Schweinske“ und der Italiener „Mama“ folgten. Aktueller Nachtrag 2025: Als Donald Trump im Januar 2025 zum zweiten Mal sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten antrat, erzählte ich auf der Hausversammlung von meinem Erlebnis mit John Cipollina und schlug vor, ein Transparent mit der Aufschrift „Fuck You Mister President!“ an die Hauswand zu hängen. Niemand stimmte zu. Die Flaschen. Stattdessen gab es Gejammer: Wörter wie „fuck“ sollten wir nicht benutzen. Darauf konnte ich nur erwidern: Das sei genau die Sprache, die Trump verstehe. Also hängten wir kein Transparent an die Fassade und ließen uns die Chance entgehen, international bekannt zu werden. Todsicher wären Fotos von der Aktion weit verbreitet worden. Dann eben nicht.
veröffentlicht am 05. März 2025
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