Reinhard Barth: Kommt ihr angefochtnen Sünder (2017)
Jahrelang war er weg, aber nun hat ihn wieder jemand ins Netz gestellt, den Videoclip, angeblich Beigabe zu einer DVD-Edition von Aufnahmen der Sopranistin Magdalena Kožena. Er ist wohl schon etwas älter, die Tschechin präsentiert sich in jugendlicher Schönheit. Der Clip ist nur ein paar Minuten lang, aber was ist da alles untergebracht! Bevor er womöglich abermals verschwindet, will ich beschreiben, was darin vorkommt.
Zugrunde liegt die Arie „Kommt ihr angefochtnen Sünder“ aus der Kantate „Freue dich, erlöste Schar“ von Johann Sebastian Bach.
In der Eröffnungsszene, arrangiert wie ein Genrebild eines alten holländischen Meisters, sitzt Magdalena Kožena bei Kerzenlicht in einem bürgerlichen Kostüm des 18. Jahrhunderts, ein kleines Häubchen auf dem Kopf, über einem Notenblatt, das sie gerade zu Ende kopiert hat. Mit der Feder setzt sie einen Schlussstrich neben die letzte Note. Ein Junge erscheint, wahrscheinlich ihr kleiner Bruder, und veranstaltet einen fürchterlichen Hustenanfall. Er sieht die fertige Abschrift und umarmt die „Schwester“. Dabei fällt ein Tintenklecks auf das Manuskript.
Aus dem Off ertönen die ersten Takte des Orchestervorspiels. Magdalena rafft die Noten zusammen und stolpert, von ihrem bodenlangen Rock behindert, hinter ihrem Bruder drein zur Kirche. Unterwegs hält sie an, will nicht mehr weiter. Der Junge drängt sich an sie und zieht noch einmal alle Husten-Register. Man ahnt, er hat nicht gelernt und will sich von seiner Schwester vertreten lassen, deswegen die Komödie mit der Erkältung. Deswegen auch die Abschrift der Noten, die junge Frau braucht ja auch ein Exemplar. Sie lässt sich erweichen, und die Geschwister setzen ihren Marsch durchs Kirchenschiff fort. Auf der Empore, woher die Musik kommt, erscheint der Thomaskantor und blickt finster hinab. Der Junge zieht ehrfürchtig seinen Hut, dann klettern beide die Treppe hoch, während das kleine Orchester, Flötist, Geiger, Cellist, alle in der Tracht des 18. Jahrhunderts, noch immer mit dem Vorspiel beschäftigt ist. Der Junge macht Drohgebärden zu seinen Mitsängern: Verratet mich nicht! heißt das. Er drängelt sich nach vorn und schlägt seine Notenmappe genau in dem Moment auf, da der Kantor den Einsatz gibt. Den „Bach“ haben sie nach dem bekannten Altersporträt stilisiert, das auf zig Schallplattenhüllen drauf ist: der Perückenmann, der so grimmig guckt. Das kriegt der Schauspieler, der hier den Bach mimt, auch glänzend hin.
Das Bürschchen beginnt also die Arie mit dem wunderlichen Text
Kommt ihr angefochtnen Sünder,
Eilt und lauft, ihr Adamskinder,
Euer Heiland ruft und schreit!
Kommt ihr verirrten Schafe,
Stehet auf vom Sündenschlafe,
Denn itzt ist die Gnadenzeit
Oder tut jedenfalls so, als ob er singe. Da die Kamera langsam nach hinten gleitet, wird man gewahr, von wem der Gesang kommt, von der Schwester, die sich hinter den Chorknaben versteckt hat.
Bach, an der Orgel, merkt natürlich schon bald, dass es nicht der Knabe ist, der da singt. Er tritt auf ihn zu, klappt ihm die Notenmappe zu und zieht den Jungen am Ohr nach vorne. Die junge Frau, die nun sichtbar wird, bekommt das nicht mit und singt erst einmal weiter. Verliebt guckt sie in das Notenblatt, es gefällt ihr, was sie da vorträgt, und sie gefällt sich auch selbst beim Singen. Bachs grimmige Miene glättet sich derweil, sein Blick wird weich; so gut hat er schon lange niemand singen hören. Schließlich merkt auch die Sängerin, was los ist, und will fliehen, aber Bach holt sie zurück, führt sie nach vorne an die Orgel und lässt sie die Arie zu Ende singen, eine kleine Kadenz eingeschlossen. Der Junge bekommt zwischendurch eine Kopfnuss, darf aber neben dem Kantor stehenbleiben, macht triumphierende Faxen, und am Ende nimmt Bach ihn sogar in den Arm.
Szenenwechsel, Sprung in die Gegenwart. Blick aus einem Fenster auf die Silhouette einer Stadt, vermutlich ist es Prag. Magdalena Kožena, nun Studentin oder junge Musikwissenschaftlerin, in langer Hose und Strickjacke, steht fluchend in einem Regen von Papier, der von oben auf sie niedergeht. Offenbar hat sie versucht, sich etwas von einem hohen Schrank zu angeln und dabei unabsichtlich einen Stapel Papier zum Absturz gebracht. Wie sie auf die Bescherung niederblickt, malt sich plötzlich Freude in ihrem Gesicht, sie hat am Boden ein Blatt mit einem Tintenklecks entdeckt. Musik beginnt, das Vorspiel zu „Kommt ihr angefochtnen Sünder“, mit dem auch der Clip begonnen hatte. Sie zieht das Blatt hervor, streicht beglückt mit der Hand darüber und legt es in einen Kopierer ein. Die Kopien rollt sie zusammen und stopft sie in ihre Gesäßtasche. Im Rhythmus der Musik schwingend stöckelt sie über den Flur des Gebäudes davon.
Da bleiben natürlich Fragen: Magdalena Kožena scheint das Notenblatt mit dem Tintenklecks gar nicht gesucht zu haben, es fällt ihr zufällig zusammen mit anderen alten Musikalien auf den Kopf. Herkömmliche Dramaturgie würde auch zuerst den Fund des Notenblatts inszenieren und die Vorgeschichte dann in Rückblenden liefern. Aber das ist Krittelei. Wichtiger ist doch, wie genau die Arie in die Handlung hineinpasst (oder die Handlung in die Arie!), wie schön Magdalena Kožena ist und wie wunderbar sie singen kann!
To Shiver the Sky "Die Menschen sind töricht,
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Diese Worte aus dem Lied "Die Vögel" von Franz Schubert laden nach wie vor zum Nachdenken ein: Das Urteil darüber, ob die Menschheit seit dem Jahr 1820 klüger geworden ist, sollte vielleicht kommenden Generationen überlassen werden. Dass aber Menschen fliegen können, ist heute unstrittig. Mit ihren geistigen und metallenen Flügeln können sie sogar höhere Sphären erkunden als das gefiederte Volk. Im Oratorium "To Shiver the Sky" ("Den Himmel beben lassen") hat Christopher Tin das multiperspektivische Verhältnis von Mensch, Himmel und Weltraum beleuchtet und kommentiert.
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