|
|
|
|
>
|
>
|
|
|
|
|
|
21695 Artikel online | 1
Paradise by the Dashboard Light
(2025)

Ich kannte Meat Loaf. Er gehörte zu dem kuriosen Personal des Films „The Rocky Horror Picture Show“, den ich im Winter 1977/78 in Hamburg sah. Aus einer Tiefkühlkammer kommend fährt auf einem Motorrad durch eine Festgesellschaft und wird vom Gastgeber, dem Transvestiten Frank N. Furter, mit einer Spitzhacke erschlagen.
Mein Mitbewohner Ulrich, der immer mal Platten mit Rockmusik kaufte, brachte eines Tages ein Album von Meat Loaf mit, „Bat out of Hell“, auf dem Cover ein wildes Gemälde: Ein Muskelprotz auf einem Motorrad mit einem Pferdeskelett vorm Lenker, das wie eine Rakete aus einer Erdspalte (oder aus einem Hölleneingang) hervorschießt, im Hintergrund hockt eine riesige Fledermaus auf einem Mausoleum, aus der Erde ragen überall Grabsteine und -kreuze. Der Fahrer wird von der losjagenden Maschine auf seinem Sitz zurückgerissen, auf dem Polster liegend erlebt er womöglich gerade einen Orgasmus. Das Ganze im Stil der 70er Jahre, als fantasy art blühte und die Zeichner sich in immer neuen Darstellungen von Muskelmännern (und Muskelfrauen) im Kampf gegen finstere Gestalten aus der Unterwelt oder Urzeitmonster ergingen. Im Film „Conan der Barbar“ (1981) eroberte diese Ästhetik dann auch die Leinwand.
Der auf dem Titelbild war nun nicht Meat Loaf, denn so viel wusste ich, er trug seinen wenig schmeichelhaften Spitznamen „Fettkloß“ nicht von ungefähr. Meat Loaf sang, auch in der „Rocky Horror Picture Show“ hatte er das schon getan. Das Paradestück des Albums war „Paradise by the Dashboard Light“. Es nahm glatt acht Minuten ein. Die Rhythmen, satte Rockmusik, gingen mir ein, aber auf den Text achtete ich wenig, bekam allenfalls mit, dass es um ein Teenager-Pärchen ging, das in einem Auto sitzt und drauf und dran ist, miteinander Sex zu haben – im paradiesischen Licht, das die Armaturenleuchten spenden. Irgendwann kamen dann andere Platten dran, die Doors etwa, auf denen Ulrich stand, und „Bat out of Hell“ verschwand im Regal.
Ein sonderbarer Zufall brachte mich nach vierzig oder mehr Jahren darauf, einmal nachzuforschen, was es mit dem Lied auf sich hat.
Ich hatte mir nach meiner FSME-Infektion im Sommer 2024 zu Reha-Zwecken einen Hometrainer besorgt, auf dem ich jeweils eine Viertelstunde die Pedale trat, ein langweiliges Geschäft, das ich mir erträglich machen wollte, indem ich CDs, die sich in großer Zahl bei mir angesammelt hatten (Geschenke, die man mir gemacht hatte, oder Fundstücke vom Altpapiercontainer, die Leute stellen ja die schönsten Sachen auf die Kisten!), eine nach der anderen abspielte. Leider stellte der CD-Teil meiner Musikmaschine (ein Erbstück von Carolin, das schon einige Jahre oder Jahrzehnte auf dem Buckel hat) nach kurzer Zeit seinen Dienst ein. Aber da war ja noch das Kassettenteil. Dafür besaß ich von altersher ebenfalls einen großen Vorrat an sogenannten MCs mit Aufnahmen aus dem Radio oder von Platten, damals gedacht für die häufigen Autofahrten nach München. Auf einer von diesen vierzig oder fünfzig Jahre alten Kassetten, die ich während meiner Treterei hörte, fand sich das bewusste Stück von Meat Loaf, „Paradise by the Dashboard Light“. Vom Text verstand ich wieder ziemlich wenig, der schlechten Lautsprecher wegen, aber die Musik riss mich mit.
Nach Ende meiner Übung setzte ich mich an den PC und rief mir bei Google Meat Loaf auf. Dort stieß ich sofort auf einen Link zu Youtube. Der verwies auf ein Video mit der Teenie-Ballade vom Paradies im Licht des Armaturenbretts.
Unterm Monitor habe ich neuerdings einen Bluetooth-Lautsprecher von Bose. Der übertrug mir Musik und Worte in astreiner Qualität, obendrein lief der Text auf dem Bildschirm noch in Untertiteln. So konnte ich die fetzige, abwechslungsreiche Musik genießen und versstand auch endlich, wovon in dem Stück die Rede war. Weitere Aufklärung gewann ich aus einem Artikel bei Wikipedia. Meat Loaf hieß eigentlich Marvin Lee Aday und lebte von 1947 bis 2022. Die Komposition stammte von einem Jim Steinman, der für den „typischen theatralisch-bombastischen Meat-Loaf-Stil“ hauptsächlich verantwortlich war. Steinman soll Wagner-Fan gewesen sein, seine Werke werden auch als „Rock Opera“ und „Wagnerian Rock“ bezeichnet. Das fand ich übertrieben, es war eben guter Rock, Gitarren im Vordergrund, Klavier dahinter, irgendwo auch noch weitere Instrumente und Backgroundstimmen, rasche, vorwärtstreibende Tempi, dazwischen choral- oder hymnenartige Partien und sogar einiges, das wie ein Rezitativ klang. Ja, Oper gewiss, aber Wagner? Auch Leitmotive sollen darin vorkommen. Soviel ist immerhin richtig, dass die beiden Protagonisten, der Junge und das Mädchen, ihre eigenen unverkennbaren Melodien haben und dass diese dennoch, wenn es an Duette geht, miteinander harmonieren.
Meat Loaf agiert in dem Video, als ob es um sein Leben ginge. Während seine Partnerin, in einer Art Aerobic- oder Yoga-Anzug, meist am Platz verharrt, ist er, im Hemd mit Stickereien auf der Brust, in ständiger Bewegung, rennt wie ein Irrwisch herum, der schwere Mann, rudert mit den Armen, wirft seinen Kopf nach hinten und nach vorn, lässt seine Haare fliegen und seine Augen rollen und greift hektisch nach seiner Partnerin. Wie mochte der zumute sein, wenn sie ihn umarmte, der war bestimmt klatschnass! Wenn ich das sehe, denke ich: Wie hat es der Mann eigentlich fertiggebracht, aufrecht stehen zu bleiben nach dieser furiosen Leistung? Nun gut, er war erst dreißig Jahre alt zu dieser Zeit, und später soll er bei seinen Shows immer Ventilatoren dabeigehabt haben, die ihm Luft zufächelten. Und ein Organ hat er! Irgendein boshafter Rezensent soll ihn einen „postpubertären Heldentenor“ genannt haben. Jedenfalls reichte sein Stimmumfang über drei Oktaven.
Wikipedia hat den Text in voller Länge. Ganz dahinter komme ich aber dennoch nicht. Geht es da um ein Geschehen hier und jetzt, oder hält da einer melancholischen Rückblick? Jedenfalls ist es zu Anfang die klassische Szene, mir vertraut aus dem Film „Fieber im Blut“ (1960), der mit einer ausgedehnten Liebesszene unter Teenagern im elterlichen Auto beginnt. „We were barely seventeen and we were barely dressed“ singen die beiden. Der Junge kann sein Glück kaum fassen: Noch nie war er mit einem so schönen Mädchen zusammen, jeder Junge in seiner Klasse würde viel dafür geben, jetzt an seiner Stelle zu sein. Nun drängelt er: Wo sie schon mal so weit gekommen sind, warum nicht mehr? „Unterstützt“ wird er durch eine Reportage von einem Baseball-Spiel, die offenbar im Autoradio läuft. Laut Wikipedia steckt sie voller sexueller Anspielungen, aber die verstehen wahrscheinlich nur Amerikaner. Im Video werden die entsprechenden Ausschnitte eingeblendet. Als das Geschehen auf dem Feld sich einem dramatischen Höhepunkt nähert, ruft das Mädchen plötzlich: „Stop right now!“
Es folgt die Ansprache, die wohl auch klassisch ist: Bevor wir weitermachen, sag mir erstmal, ob du mich wirklich liebst. Wirst du mich heiraten, wirst du mich glücklich machen mein Leben lang?
Meat Loafs Antwort ist in ihrer Treuherzigkeit unübertrefflich: Lass mich darüber schlafen, ich sag’s dir morgen. Aus dem Liebesduett wird ein hitziger Wortstreit: Ihr „Will you never leave me, will you make me happy for the rest of my life?“ gegen sein „Let me sleep on it, I’ll give you an answer in the morning“, bis sie ihn so weit hat, dass er bei Gott und dem Grab seiner Mutter ewige Liebe schwört. Bis ans Ende aller Zeiten, lautet sein Versprechen. Aber es scheint, damit ist es nicht weit her, denn der Song klingt aus mit dem Bekenntnis, dass er das Ende aller Zeiten herbeisehnt, während das Mädchen, erfüllt von dem erotischen Erlebnis (?), fröhlich vor sich hin trällert: Noch nie hat sich etwas so gut angefühlt, noch nie so richtig, und wir glühten wie das Metall auf der Klinge eines Messers.
Letztere Metapher ist mir nicht ganz klar, aber egal, allein der Satz „Let me sleep on it, I‘ll give you an answer in the morning“ ist so urkomisch, dass ich mich immer wieder daran freuen kann, wenn ich Meat Loaf von seinem Date mit der Klassenschönsten und vom Paradies, das am Armaturenbrett leuchtet, singen höre.
veröffentlicht am 25. Januar 2025
Artikel drucken
Weitere Artikel
 | To Shiver the Sky "Die Menschen sind töricht,
Sie können nicht fliegen"
Diese Worte aus dem Lied "Die Vögel" von Franz Schubert laden nach wie vor zum Nachdenken ein: Das Urteil darüber, ob die Menschheit seit dem Jahr 1820 klüger geworden ist, sollte vielleicht kommenden Generationen überlassen werden. Dass aber Menschen fliegen können, ist heute unstrittig. Mit ihren geistigen und metallenen Flügeln können sie sogar höhere Sphären erkunden als das gefiederte Volk. Im Oratorium "To Shiver the Sky" ("Den Himmel beben lassen") hat Christopher Tin das multiperspektivische Verhältnis von Mensch, Himmel und Weltraum beleuchtet und kommentiert. |
 | Amame: Mari Boine & Bugge Wesseltoft Eigentlich war alles ganz anders geplant: Anfang 2020 lebte die samische Künstlerin Mari Boine in Tromsø im Norden Norwegens und bereitete mit dem Produzenten Svein Schultz ein neues Album vor. Doch die Corona-Pandemie traf das Projekt hart - ein Treffen im Studio war auf unabsehbare Zeit nicht möglich. So ergriff Svein Schultz die Chance, einen Job als Schulleiter an der Kulturschule in Hamarøy anzunehmen. Mari Boine blieb allein und hörte Klaviermusik. Es dauerte nicht lange, bis sie Kontakt zu Bugge Wesseltoft aufnahm, der 2002 ihr Album „Gávcci Jahkejuogu – Eight Seasons“ produziert hatte.
|
 | Irish Melodies (Thomas Moore) "The Last Rose of Summer" ist das bekannteste Lied aus den bis heute in England und Irland populären "Irish Melodies", die Thomas Moore erstmals 1808 veöffentlichte. Die von irischen Folksongs inspirierten Kunstlieder sind in den Jahren 1807 bis 1834 entstanden. In den ursprünglichen 10 Bänden sind jeweils 10 bis 16 der insgesamt 124 Lieder enthalten. Zuweilen wurden anderweitige Sammeltitel wie z.B. "Moore’s Irish Melodies" oder "Moore’s Illustrated Melodies" verwendet. |
 | In meinem wilden Herzen - Rilke Projekt Unter dem Sammeltitel „Rilke Projekt“ werden Texte von Rainer Maria Rilke interpretiert. Hierbei finden Rezitation, Gesang und Instrumentalmusik gleichermaßen Beachtung. Begründet wurde das Projekt vom Komponisten- und Produzentenduo Schönherz & Fleer. Das erste Rilke Projekt-Album trägt den Titel „Bis an alle Sterne“ und ist 2001 erschienen. Es folgten „In meinem wilden Herzen“ (2002), „Überfließende Himmel“ (2004), „Weltenweiter Wandrer“ (2012), „Wunderweiße Nächte“ (2018) und „das ist die SEHNSUCHT“ (2022). |
 | Generation Cancellation: „Ich habe keine Wahl. Geh oder stirb.“ Vor zwei Jahren war Little Big noch die Band, die Russland zum ESC in Rotterdam schicken wollte. Als Putins Truppen die Ukraine überfielen, posteten die Musiker eine schwarze Kachel "No war!" auf ihrem Instagram-Kanal - es musste auf Druck der staatlichen Stellen entfernt werden. Im Juni hat Little Big die Konsequenzen gezogen: Sie verließen das Land, dessen Regime lügt, zerstört, drangsaliert und eine ganze Generation canceln will. |
 | I’m The Putin-Man Wer Randy Newman 2017 im Song "Putin" gut zugehört hat, konnte ahnen, wohin das Ego des Kreml-Herrschers führen wird. Randy Newman erhielt einen Grammy für "Putin" und Greil Marcus sah Kurt Weill und Bertolt Brecht "vor Freude in ihren Gräbern tanzen". Newmans Warnung vor dem notorischen Lügner, Kriegsverbrecher und Diktator blieb folgenlos - nun steht die Welt hilflos vor dem Geschehen in der Ukraine. |
 | BONE MUSIC ... und was riskierst du für deine Musik? Nach dem Ende des 2. Weltkriegs bis Mitte der 1960er Jahre blühte in der Sowjetunion ein besonderer Schwarzmarkt: Zensierte Musik, von Bill Haleys "Rock around the Clock" bis zu russischen Gangsterliedern, wurde auf ausrangierte Röntgenaufnahmen kopiert. Der britische Musiker Stephen Coates stieß 2016 auf einem Berliner Flohmarkt auf Bone Music-Aufnahmen.
|
 | What a Wonderful World Er war der größte Star des Jazz, seine gute Laune ansteckend und sein Trompetenspiel und Gesang unverkennbar: Vor 50 Jahren starb Louis Armstrong, der erste schwarze Musiker, der es zu Weltruhm gebracht hatte. Seine Fassungen von Hello Dolly, Blueberry Hill, When the Saints Go Marchin’ In, Dream a Little Dream of Me und dem St. Louis Blues gehören zum kollektiven Gedächtnis. |
 | Bella Ciao - Partisanenlied als offizielle Hymne? In Italien wird aktuell heftig über ein Lied gestritten: Parlamentarier linker Parteien und der Cinque Stelle haben vorgeschlagen, "Bella Ciao" zur offiziellen Hymne des 25. Aprils zu machen, des Gedenktags für die Befreiung von Faschismus und deutscher Besatzung. Das Partisanenlied stehe für die "höchsten Werte der Republik" und solle künftig bei offiziellen Anlässen gleich nach der Nationalhymne erklingen. |
 | hamburg.stream – ein online-Projekt der Jazz Federation Hamburg zur Aufrechterhaltung des Kulturbetriebs hamburg.streamentstand als unmittelbare Reaktion auf die Herausforderungen, mit denen die Kultur zu Beginn der Corona-Pandemie konfrontiert war, und erweist sich bis heute (Stand Mitte April 2021) als anspruchsvolle, nachhaltige und zugleich absolut zukunftsfähige Plattform für Musik im digitalen Raum. Am 14. April 2020 gestartet, setzte das Team von hamburg.stream in weniger als 12 Monaten ca. 90 Streams um, bot fast 400 Musiker:innen in einem auf Jazz ausgerichteten, aber durchaus divers aufgestellten Programm eine Bühne und sammelte rund 80.000€ Spenden.
|
ᐅ „Excavated Shellac“ - 100 Schellack-Schätze ᐅ hamburg.stream - Hamburg bleibt live! ᐅ Reinhard Barth: Va, pensiero ᐅ Algorithmen vollenden Beethoven ᐅ Jukebox alter Meister